Gottesdienst mit Liedpredigt am Sonntag 13.05.

Paul Gerhardt – der Glaubenstrotzige –

Die Kuturbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin Oberlausitz, Dr. Petra Bahr, hielt am Sonntag, den 13. Mai 2007, die Liedpredigt des Monats in der Paul ? Gerhardt ? Kirche in Lübben(Spreewald). Dazu hat sie für uns einen Liedschatz aus der Versenkung gehoben.

  1. Du bist ein Mensch, das weißt du wohl / was strebst du denn nach Dingen, / die Gott, der Höchst, alleine soll / und kann zu Werke bringen? / Du fährst mit deinem Witz und Sinn / durch so viel tausend Sorgen hin / und denkst: wie wills auf Erden / doch endlich mit mir werden?

Predigttext und Liedtext unter: weitere Infos

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.

?Was willst Du werden, wenn Du einmal groß bist??, mit dieser Frage sehen sich Kinder oft konfrontiert. Da ging es meinem kleinen Bruder nicht anders. Die Patentante saß am Kaffeetisch, und nachdem das erste Stückchen Käsekuchen verschlungen war, kam die harmlose Frage, die Kinder ungefähr tausendmal beantworten müssen, bevor sie erwachsen sind. Was willst Du einmal werden, wenn Du groß bist?? Die Tante guckte erwartungsvoll zum kleinen Fratz und wollte ein paar Berufsvorstellungen hören, die indirekt auch noch darüber Aufschluss gaben, wie es in der Schule so läuft. Da baute sich mein kleiner Bruder vor ihr auf, legte die Hände in die Seite, wie er es bei meiner Mutter gelernt hatte, und sagte mit dem Brustton der Überzeugung: ?Ein Mensch!?. Die Tante stockte, die Erwachsenen guckten erst irritiert dann belustigt, bevor sie in Gelächter ausbrachen. Der kleine Junge aber stand ganz verloren und wusste gar nicht, was so lustig daran war. Bis mein Vater den Heiterkeitsausbruch beendete. ?Ja, ein Mensch sollst Du werden. Das ist eine gute Idee. Den Weg haben wir auch noch vor uns.? Die kleine Geschichte ist natürlich in den Familienschatz eingegangen. Mein kleiner Bruder hat sich seine Antwort immer wieder auf die Nase binden lassen, von den großen Geschwistern. Er dachte, ein Erwachsener werden hieße, ungefähr das gleiche wie ein Mensch zu werden. Kinder sind oft richtige Philosophen. Das wissen wir. Sie sind dann und wann auch die besseren Theologen. Paul Gerhardt hätte sich über die Antwort meines kleinen Bruders gefreut. Er gibt in einem Gedicht eine ganz ähnliche Antwort. Das Gedicht ist nicht sehr bekannt. Aber in ihm steckt eine Seite des großen Liederdichters, die uns in den berühmten Kirchenliedern nicht so begegnet. Deshalb will ich dieses Lied heute in den Mittelpunkt unseres Hörens und Fragens stellen. Hören Sie selbst:

  1. Du bist ein Mensch, das weißt du wohl / was strebst du denn nach Dingen, / die Gott, der Höchst, alleine soll / und kann zu Werke bringen? / Du fährst mit deinem Witz und Sinn / durch so viel tausend Sorgen hin / und denkst: wie wills auf Erden / doch endlich mit mir werden?
  2. Es ist umsonst. Du wirst fürwahr / mit allem deinem Dichten / auch nicht ein einzges kleinstes Haar / in aller Welt ausrichten, / und dient dein Gram sonst nirgend zu, / als dass du dich aus deiner Ruh / in Angst und Schmerzen stürzest / und selbst das Leben kürzest.

Du bist ein Mensch. Das weißt Du wohl. Nun, das ist doch eine Selbstverständlichkeit, Gevatter Gerhardt. Braucht es da noch eine Erinnerung? Die beiden Strophen seines Liedes jonglieren in der Tat geschickt mit Selbstverständlichkeiten. Aber sie werden im Ton einer Erinnerung vorgetragen. Paul Gerhardt weiß, dass manche Dinge so selbstverständlich sind, dass wir sie gar nicht mehr bemerken. Sie sind so offensichtlich, dass wir sie nicht wahrnehmen. Das ist ungefähr so, wie wenn ich mal wieder meine Brille suche, obwohl sie schon auf meiner Nase sitzt. Du bist ein Mensch. Da muss doch noch was kommen, mögen sie denken. Paul Gerhardt ist doch ein geistlicher Liederdichter. Der sündige Mensch, der gerechtfertigte Mensch, der begnadigte Mensch ? all das müsste doch jetzt kommen. Das klingt sonst fast wie Erich Kästner oder Eugen Roth. Dichtung als Lebensberatung. Als ich es zum ersten Mal las, fühlte ich mich wie ertappt. Stimmt, dachte ich. Ganz genauso ist es. Das Menschsein. Natürlich gibt es noch andere Facetten, aber Paul Gerhardt schafft es, in ein paar Versen ein ganzes Grundgefühl auszudrücken. Der Ton ist leicht, fast weht ein Anflug von Humor durch diese Strophen. Die Sache selbst ist schwer. Menschsein, das heißt, sich ständig Sorgen zu machen, über sich selbst, über die, die uns etwas bedeuten, über die Welt, in der wir leben. Das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit. Wir haben auch Spaß, wir freuen uns am Schönen, wir genießen einen besonderen Augenblick. Doch dieses Grundgefühl, dass alles irgendwie umsonst sei, frisst uns doch oft genug Löcher in die Seele. Die Löcher sind manchmal nur klein. Aber die Seele wird trotzdem porös.

Dieses Grundverhältnis zum Menschsein treibt die Menschen im Barock um wie kaum etwas anderes. Paul Gerhardt ist da ganz Kind seiner Zeit. Große Philosophen und Theologen stellen im 17. Jahrhundert immer wieder die eine große Frage: Was ist der Mensch? Und sie antworten skeptisch: Es ist umsonst. Vergebliche Liebesmüh. Wir bleiben in Ängsten. So lauten die Antworten ? der großen Denker wie der Liederdichter. Die Frage ist auch heute noch aktuell. Neurobiologen und Psychologen, Philosophen und Literaten stellen sie weiter.

Paul Gerhardt steht mit seiner Antwort ganz in biblischer Tradition. Es ist eine weisheitliche Tradition. Du bist ein Mensch! Das ist das Thema der Weisheitsbücher im Alten Testament. Die Frage nach dem Menschen kann ganz abgehoben sein. Akademiegeschwätz für die, die den ganzen Tag über so eine Luxusfrage nachdenken können. Sie kann uns aber auch mitten in unserem Alltag treffen. Dazu braucht es keinen Doktortitel in Philosophie und auch kein Theologiestudium in Wittenberg. Wir können sie uns in der Küche stellen, während wir gerade den Kaffee fürs Frühstück aufbrühen. Da durchfährt uns ja manchmal so ein ganz tiefer Gedanke. Wie ein Schrecken sitzt er uns im Nacken. Ist alles umsonst? Die Frage stellt sich auch in Gelehrtenstuben. Dickleibige Bücher entstehen. Das ganze europäische Abendland ist zutiefst geprägt von diesen Büchern. Du bist ein Mensch! Was heißt das nur? Diese Frage gehört auch mitten in den Gottesdienst. Und die Antwort?. Es ist umsonst. Es ist umsonst? Ist das wirklich die Antwort, die Paul Gerhardt gibt, den wir doch als den Glaubenstrotzigen kennen? Ist er in diesem Lied doch eingeknickt vor den Zumutungen des Lebens? Zum Glück hat der Dichter noch ein paar Strophen für uns:

  1. Wer hat gesorgt, da deine Seel / im Anfang deiner Tage / noch in der Mutterleibeshöhl / und finsterm Kerker lage? / Wer hat allda dein Heil bedacht? / Was tat da aller Menschen Macht, / da Geist und Sinn und Leben / dir ward ins Herz gegeben?
  2. Durch wessen Kunst steht dein Gebein / in ordentlicher Fülle? / Wer gab den Augen Licht und Schein, / dem Leibe Haut und Hülle? / Wer zog die Adern hie und dort / ein jed an ihre Stell und Ort? / Wer setzte hin und wieder / so viel und schöne Glieder?
  3. Die Windeln, die dich allgemach / umfingen in der Wiegen, / dein Bettlein, Kammer, Stub und Dach / und wo du solltest liegen, / das war ja alles zugericht?t, / eh als dein Aug und Angesicht / eröffnet ward und sahe, / was in der Welt geschahe.

Du bist ein Mensch. Was das im Horizont des Glaubens heißt, spricht eine deutliche Sprache. Hier kommt er, der Einspruch gegen allen Fatalismus, gegen alle Skepsis, gegen allen Vergeblichkeitsverdacht. Du bist ein Mensch ? erinnere dich daran, dass Du ein Geschöpf Gottes bist. Kein Zufall, keine Laune der Natur, kein evolutionsbiologischer Versuch. Du bist in Ergebnis von Gottes Lieblingsgedanken. Sogar an Deine Windeln hat er gedacht. Ein plastisches Bild. Du bist ein Mensch ? das heißt nichts anderes, als dass Du ein Bild Gottes bist, ruft Paul uns mit diesen Versen zu. Erinnere Dich daran, wenn mal wieder alles umsonst ist. Das hat nämlich Konsequenzen für unsere Sicht auf das Menschsein selbst. Wir könnten jetzt gelassen und fröhlich durch unser Leben springen und so vertrauensvoll wie ein Kind. Tun wir aber nicht. Paul Gerhardt spricht eine klare Sprache:

  1. Noch dennoch soll dein Angesicht / dein ganzes Leben führen; / du traust und glaubest weiter nicht / als was dein Augen spüren; / was du beginnst, da soll allein / dein Kopf dein Licht und Meister sein, / was der nicht auserkoren, / das hältst du als verloren.
  2. Nun siehe doch, wie viel und oft / ist schändlich umgeschlagen, / was du gewiss und fest gehofft / mit Händen zu erjagen. / Hingegen, wie so manchesmal / ist das geschehn, das überall / kein Mensch, kein Rat, kein Sinnen / sich hat ersinnen können!
  3. Der aber, der uns ewig liebt, / macht gut, was wir verwirren, / erfreut, wo wir uns selbst betrübt, / und führt uns, wo wir irren; / und dazu treibt ihn sein Gemüt / und die so reine Vatergüt, / in der uns arme Sünder / er trägt als seine Kinder.
  4. Ach, wie so oftmals schweigt er still / und tut doch, was uns nützet, / da unterdessen unser Will / und Herz in Ängsten sitzet, / sucht hier und da und findet nichts, / will sehn und mangelt doch des Lichts, / will aus der Angst sich winden / und kann den Weg nicht finden.
  5. Gott aber geht gerade fort / auf seinen weisen Wegen, / er geht und bringt uns an den Ort, / da Wind und Sturm sich legen. / Hernachmals, wann das Werk geschehn, / so kann alsdann der Mensche sehn, / was der, so ihn regieret, / in seinem Rat geführet.
  6. Tu als sein Kind und lege dich / in deines Vaters Arme, / bitt ihn und flehe, bis er sich / dein, wie er pflegt, erbarme: / So wird er dich durch seinen Geist / auf Wegen, die du jetzt nicht weißt, / nach wohlgehaltnem Ringen / aus allen Sorgen bringen.

Was willst Du werden, wenn Du einmal groß bist? hat die Tante meinen kleinen Bruder gefragt. Ein Mensch, hat der geantwortet. Wenn wir uns heute selber fragen, was wir denn werden wollen, dann können wir wie mein kleiner Bruder damals entschlossen die Hände in die Hüften legen und sagen: Ein Kind. Ein Kind, das sich so vertrauensvoll in Gottes Arme schmiegt.