Gottesdienst mit Predigt zu den Liedversen auf dem Paul-Gerhardt-Denkmal

Predigt: Jürgen Rennert, Berliner Lyriker
Foto: Werner Kuhtz
Liedpredigt am Sonntag, dem 1. Juli 2007 in der Paul-Gerhardt-Kirche Lübben

I
Am 6. Mai 1945, zwei Tage vor der bedingungslosen deutschen Kapitulation, hält der Emdener Pfarrer Gerhard Brunzema in der Wohnung der Familie Hinderks den Sonntagsgottesdienst. Die Kirchen liegen – wie fast die gesamte Emdener Altstadt – seit dem Bombenangriff vom 6. September 1944 in Schutt und Asche. Gerhard Brunzema, der bereits bei seiner Ordination 1935 für einen Eklat sorgte, als er vor der versammelten Gemeinde seine Amtseinführung durch einen Pfarrer der „Deutschen Christen“ infrage stellte, predigt über die ersten neunzehn Verse des Jesaja-Buches. Zuvor stimmt er mit der ebenso klein wie kleinlaut gewordenen Gemeinde ein fast dreihundert Jahre altes Lied von Paul Gerhardt an. Das Lied findet sich heute nicht mehr im Evangelischen Gesangbuch. Aber die Lübbener Gemeindeglieder haben es in seiner ersten Strophe seit dem 27. Juni 1907 Sonntag für Sonntag vor Augen, wenn sie die Kirche verlassen. Paul Gerhardts letzte Predigtstätte und Grablege blieb bis auf einen Treffer im Turm denkwürdigerweise verschont, als das Lübbener Stadtzentrum 1945 militärisch entkernt wurde, weil sich der Bürgermeister weigerte, der herannahenden Roten Armee die zur „Festung“ erklärte Stadt kampflos zu übergeben. Und auch das Denkmal blieb stehen. Mit einigen Einschüssen. Auf der Rückseite des Sockels, auf den der Berliner Bildhauer Friedrich Pfannschmidt einen freundlich energischen Paul Gerhardt gestellt hat, liest sich: „Gott Lob, nun ist erschollen / Das edle Fried- und Freudenwort, / Dass nunmehr ruhen sollen / Die Spieß und Schwerter und ihr Mord. / Wohlauf und nimm nun wieder / Dein Saitenspiel hervor, / O Deutschland, und sing Lieder / Im hohen vollen Chor.“

Eine eindringliche Mahnung. Unüberlesbar eingemeißelt. Sieben Jahre vor Anzettelung des Ersten Weltkriegs, der auf Erringung globaler Vorherrschaft zielte. Sieben Jahre vor dem Ableben des knapp fünfzig Jahre alt gewordenen Friedrich Pfannschmidts, der dem Chorraum des 1905 eingeweihten Berliner Kaiserdoms noch den trutzigen Luther und einen etwas bedenklicheren Melanchthon flankierend beigesellt hat.

II
„Die große Wende ist anders ausgefallen, als es sich die meisten dachten. Aber, dass es zu einer Wende gekommen ist, bewegt uns alle auf Tiefste. Unsere Herzen sind bewegt von Freude und Trauer …“ Diese Sätze sind nicht von heute und gestern, sondern von vorgestern. Sie entstammen nicht der Presse nach dem Zerfall der DDR, sondern der eingangs erwähnten Predigt Gerhard Brunzemas vom 6. Mai 1945. Derart kann unsereiner sich täuschen und verhören, wenn er vergisst, dass alles irdische Geschehen mit immergleichen Wiederholungen und sich fatal ähnelnden Wendungen und Parolen aufwartet. Wider anderen Anschein und entgegen aller Heilsversprechen. Im Guten wie im Bösen. Das kommt von unserer natürlichen Sterblichkeit, rührt her aus dem Entsetzen über unsere unauslöschlich einprogrammierte Flüchtigkeit. Bertolt Brecht, nahezu lebenslang Verfechter revolutionärer Bewegungen, notierte 1955, ein Jahr vor seinem Tode: „Dauerten wir unendlich / So wandelte sich alles / Da wir aber endlich sind / Bleibt vieles beim alten“. Brechts Zeilen fördern bei mehrfachem Lesen zutage, wie sehr das jubelnde und das klagende „Endlich“ beieinander liegen. „Da wir aber endlich sind“ ist das sinngenaue Gegenteil von „Da wir aber endlich sind“. Die Betonung macht?s. Nicht nur in der Dichtung, die zu solchen Einsichten verhilft, sondern auch im Lebensvollzug. Die Art, in der wir die Akzente setzen, verrät uns, zeigt an, worauf wir insgeheim Wert legen und worauf nicht, woran wir letztlich glauben oder zerbrechen. Jenseits des vorgegebenen Textes, den wir ohnehin leichter nachbeten als bedenken.

Das Elend unseres zögerlichen Umgangs mit der Dichtung und den Dichtern rührt auch aus unserer Vorliebe für den Starkult her. Vor wenigen Tagen übertitelte die Hannoveraner EKD-Behörde Wolfgang Hubers Rede zum Berliner Johannistreffen mit der Zeile „EKD-Ratsvorsitzender würdigt Paul Gerhardt als ?Popstar?“. Schade, dass der so Gewürdigte sich nicht mehr revanchieren kann. Sonst könnten wir womöglich gegenhalten mit „Paul Gerhardt würdigt EKD-Ratsvorsitzenden als überragenden Entertainer“.

Was Gotthold Ephraim Lessing 1753 an Klopstock schrieb, bleibt aktuell. Und lässt sich im Paul-Gerhardt-Jahr – fraglos mit Lessings Einverständnis – namentlich variieren: „Wer wird nicht einen Gerhardt lesen. Doch wird ihn jeder lesen? Nein. Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein.“

Rückblickend betrachtet, ist es mit dem Lesen im Falle Paul Gerhardts nie schlecht bestellt gewesen. Generationen von Konfirmanden lernten – unter einigem Druck – etliche seiner Lieder für die einst obligatorische Prüfung durch die Gemeinde auswendig. Und trugen sie dann jahrelang im Hinterkopf mit sich herum. Ohne zu wissen oder zu ahnen, wozu das gut sein konnte. Es erwies seinen Sinn für viele erst dann, wenn nicht die Dichtung, sondern das Leben ernst mit ihnen machte. Und sie dabei jener Sprach- und Fassungslosigkeit auslieferte, die jeden befällt, dem die liebsten Menschen wegsterben oder dem der eigene Tod droht und vor Augen steht. Da wird unsereinem die aus der Erinnerung „einfallende“, vermeintlich fremde Formulierung zum Lichtschacht im Bunker der Untröstlichkeit. In Bonhoeffers letzten Briefen vor seiner martialischen Hinrichtung liest sich, wie sehr ihn Paul Gerhardts ungeschminkt verbalisierten Welt-, Lust- und Leiderfahrungen nicht vertrösteten, sondern in seiner Haltung bekräftigten. Das braucht mensch, um vor seinem körperlichen Ende nicht selbstentseelt einzuknicken. Es gibt – zeitlich gesprochen – nicht nur ein Leben, sondern auch ein Sterben vor dem Tod.

III
„Das drückt uns niemand besser / in unser Seel und Herz hinein / als ihr zerstörten Schlösser / und Städte voller Schutt und Stein; / ihr vormals schönen Felder / mit frischer Saat bestreut, / jetzt aber lauter Wälder / und dürre wüste Heid; / ihr Gräber voller Leichen / und blut?gen Heldenschweiß, / der Helden, derengleichen / auf Erden man nicht weiß.“

So geht die vierte der sechs Strophen, die, wie ich denke, nicht weniger als die erste für den Sockel getaugt hätte. Sie stünde dann unter der lädierten Kanone im zerwühlten Kornfeld, und führte bis heute vor Augen, was von den Euphorien und Verheißungen der Kriege und Kriegstreiber letztlich übrig bleibt. Außer monströsen Gedenkstätten nichts. Das gilt auch für jene, die nun für die getöteten Soldaten der Bundeswehr auf dem Gelände des ehemaligen Oberkommandos der Wehrmacht in Berlin errichtet werden wird.

Für welche Strophe auch immer ich mich – bei aller Qual der Wahl – entschiede, widerspräche diese Entscheidung doch der Einsicht, dass Texte nicht nur durch Wortveränderungen, sondern auch durch Aus- und Fortlassungen beschädigt und verfälscht werden. Ich weiß, dass in den aufs zeitliche Limit von sechzig Minuten getrimmten Gottesdiensten unserer Tage heute kaum noch ein Lied mit allen seinen Strophen gesungen und bedacht werden kann. Das ist – streng genommen – barbarisch. Denn die Form eines Gedichtes ist immer auch Absicht und Teil seines Inhalts. Die Bibel führt es an einigen Stellen vor. Etwa im 119. Psalm, den Luther als „Güldenes Alphabet“ apostrophierte. Wer dessen Verse nicht nur von links nach rechts, sondern auch von oben nach unten Revue passieren lässt, mit dem Hauptaugenmerk auf den Zeilenanfang, dem leuchtet, als fielen ihm Schuppen von den Augen, das gesamte Alphabet in ordentlicher Reihung auf. Das hat viel zu bedeuten. Denn es bekräftigt im Vertikalen, wovon es in der Horizontalen spricht: von der allumfassenden Vollkommenheit des göttlichen Wortes.

So liest sich in Paul Gerhardts vielgesungener Auslegung des 37. Psalms, die er mit dem fast wortwörtlichen Zitat des fünften Verses beginnen lässt, ebendieser Vers sowohl in der Länge als auch in der Breite des zwölfstrophigen Akrostichons. Dieser kunstvolle Text, dem die Mühen der Kunst und der Theologie nicht mehr anzumerken sind, ist unweit von hier in Mittenwalde entstanden, wo der vierundvierzigjährige unverheiratete Gerhardt als Pfarrer und Probst im November 1651 eingeführt wird. Noch verschont von den konfessionellen und politischen Streitigkeiten, die ihm zehn Jahre später in Berlin das ohnehin schwere und dann schon durch den Tod zweier Töchter und eines Sohnes überschattete Leben noch schwerer machen werden. Der 37. Psalm beschreibt in einem sich letztlich auspendelnden langen Hin und Her die Weltverhältnisse, wie sie sind. Er thematisiert im Detail die Schwierigkeiten und die Mühsal der Rechtschaffenen und das leicht errungene Glück der Gewaltigen und Gottlosen. „Ich sah einen Gottlosen, der pochte auf Gewalt und machte sich breit und grünte wie eine Zeder“. Die Seitenblicke und Seitenhiebe des Psalmisten auf die reichen und gewaltberauschten Übeltäter spart Gerhardt in seiner Deutung aus. So als wüsste er um die Gefährlichkeit einer sich vorrangig aufs Übel konzentrierenden Fixierung. Und es entsteht ein Lied gottvertraulicher Zuversicht, dessen Reime sich derart beiläufig wie von selbst ergeben, dass kein Zweifel an der Plausibilität des Mitgeteilten bleibt: „Ihn, ihn lass tun und walten, / er ist ein weiser Fürst / und wird sich so verhalten, / dass du dich wundern wirst?“

In seiner 1901 erschienenen „Allgemeinen Geschichte der Literatur“ vergleicht der jüdische Literaturhistoriker und Journalist Gustav Karpeles (1848-1908) die Lieder Paul Gerhardts mit denen Luthers. Und formuliert erfrischend deutlich, was einem christlichen Theologen in solcher Vereinfachung kaum über die Lippen käme: „Man hat Gerhardts Dichtungen neben denen Luthers genannt; sie sind aber nicht kriegerischer, sondern friedfertiger Natur, hervorgegangen aus einem einfachen, klaren Sinn, aus einem frohgemuten Herzen. Es sind Lieder vertrauensvoller Hingebung, milder Resignation, tiefen Ernstes, aber auch bescheidener Heiterkeit, in welcher ein Reichtum an frommen Gefühlen, an menschlichen Empfindungen, an Herzenstönen sich zusammenfindet, wie ihn kein Dichter jener Zeit zu bieten vermochte. (?) Bei Luther ruft die Gemeinde zu Gott; bei Gerhardt redet der einzelne. Seine Lyrik ist nicht mehr Chorpoesie, sie beschränkt sich nicht auf das, worin alle betenden Christen sich einig sind: sie holt aus der Tiefe des individuellen Seelenlebens ihre besten Schätze.“

IV
Gustav Karpeles, 1908 gestorben, liegt in der „Ehrenreihe“ des großen Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee begraben. Doch Paul Gerhardts Gebein ruht hier, unter den Bodenfliesen des Chorraums. An keinem anderen Ort der Welt als diesem lässt sich mit mehr Berechtigung sagen, dass Gerhardt unter uns ist. Vergänglich und unvergänglich in einem. Leibhaftig nicht, aber lebhaft. Die wechselnden Rhythmen seines Herzschlags sind hörbar geblieben im Metrum seiner Verse. Aus denen der Himmel leuchtet, weil sie geerdet sind. Noch vor dem Enden des religiös verbrämten dreißigjährigen Terrors verdeutschte Paul Gerhardt unter dem Titel „Wahre Erniedrigung seiner selbst“ die lateinisch verfassten Verse des aus Schwaben stammenden Nathan Chyträus (1543-1598). Dieser bis heute umstrittene Text umfasst zehn achtzeilige Strophen und beginnt: „Herr, ich will gar gerne bleiben, / wie ich bin, dein armer Hund, / will auch anders nicht beschreiben / mich und meines Herzens Grund. / Denn ich fühle, was ich sei: / Alles Böse wohnt mir bei, / ich bin aller Schand ergeben, / unrein ist mein ganzes Leben.“ Wer soviel von sich weiß und es gelassen ausspricht, dem glaube ich, was er sagt. Auch da, wo es mir noch schwerfällt, weil es scheinbar so leicht daher kommt:
„Mein Herze geht in Sprüngen / und kann nicht traurig sein, / ist voller Freud und Singen, / sieht lauter Sonnenschein. / Die Sonne, die mir lachet, / ist mein Herr Jesus Christ, / das, was mich singen machet, / ist, was im Himmel ist.“

Amen.