Eine Predigt zum Ende der Paul Gerhardt Woche in Lübben
am Sonntag Jubilate 15. Mai 2011
Rolf Wischnath
I Vorwort
Liebe Gemeinde, Paul Gerhardt macht es uns nicht immer leicht. Seine Hoff-nungs- und Zuversichtslieder ? insbesondere natürlich der Choral ?Befiehl du deine Wege? erreichen unseres Herzensgrund. Ich möchte aber heute einmal einige Seiten in Paul Gerhardts Liederbuch aufschlagen, bei denen ich und mit mir viele Christen unserer Zeit dem großen Dichter nicht folgen können. Es hängt auch mit dem zusammen, was uns in den letzten Wochen zutiefst beun-ruhigt und erschüttert hat. Jedenfalls kann ich Ihnen heute keine Predigt predi-gen, als wäre in diesen Frühlingstagen nichts Nennenswertes gewesen. Die Ereignisse in Japan, die mit dem Tsunami und den Zerstörungen im Atomkraft-werk Fukushima begonnen haben, halten einigermaßen wache Zeitgenossen seit Wochen in Atem. Und sie erfordern wohl auch, dass die Theologen sich be-sinnen. Aber was sollen sie sagen?
Ich frage bei Paul Gerhardt an und schaue, was er uns zuspricht. Der Mann hat ja die schlimmste Katastrophe seiner Zeit (den Dreißigjährigen Krieg) und Ver-treibung und Krankheit und Tod ? besonders den Tod seiner Frau und das Ster-ben seiner Kinder ? erfahren und durchleiden und bewältigen müssen. Und in der Bewältigung solch tiefschwarzer Schatten hat er auch gedichtet ? z. B. in seinem Lied ?Gottlob, nun ist erschollen? den Vers 2:
Wir haben nichts verdienet
Als schwere Straf und großen Zorn
Weil stets noch bei uns grünet
Der freche, schnöde Sündendorn.
Wir sind fürwahr geschlagen
Mit harter, scharfer Rut
Und dennoch muss man fragen:
Wer ist der Buße tut?
Wir sind und bleiben böse,
Gott ist und bleibet treu.
Hilft, dass sich bei uns löse
Der Krieg und sein Geschrei.
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Oder Paul Gerhardt schaut auf seine Sünden und die der Zeitgenossen und der Welt, um zu dichten:
Die Welt hält keine Zucht,
Der Glaub ist in der Flucht,
Die Treu ist hart gebunden,
Die Wahrheit ist verschwunden,
Barmherzig sein und lieben,
Das sieht man selten üben.
Daher wächst Gottes Grimm
Und dringt mit Ungestüm
Aus seines Eifers Kammer
Und will mit großem Jammer,
Wo wir uns nicht bekehren,
Uns allesamt verheeren.
Oder schließlich ? als drittes Beispiel von vielen ? eine Strophe aus dem Lied ?Ich hab oft bei mir selbst gedacht?:
Es weiß ein Christ und bleibt dabei,
Dass Gott sein Freund und Vater sei;
Er hau, er brenn, er stech, er schneid.
Hier ist nichts, das uns von ihm scheid,
Je mehr er schlägt, je mehr erliebt,
Bleibt fromm, ob er uns gleich betrübet.
Wir hören hier einen Paul Gerhardt, der uns fremd geworden ist. Sollen wir in auch in unseren Tagen einen strafenden Gott für möglich halten, der die tech-nischen Abgründe der Menschen zusammenstürzen lässt und eine Strafe ver-fügt, mit der bis in tausend Jahren auch ungezählte Generationen nach uns mit der Verstrahlung ihres Erdteils gestraft sind?
Aber was machen wir mit Paul Gerhardt, der uns zumutet, in Unglück und Ka-tastrophe, in Schmerz und Tod die Strafruten Gottes zu sehen?
Paul Gerhardt ist gerade darin ein treuer Lutheraner, dass er sich in seinen Lie-dern immer wieder auf die Bibel bezieht. Von ihr lässt er sich in seinem Leben immer wieder korrigieren und ausrichten. Darüber dichtet er einmal in einem Gebetsvers aus dem Lied ?Herr, was hast du im Sinn? :
?Lass auch noch immerfort?
Dein liebes wertes Wort
In unserm Land und Grenzen
Schön rein und helle glänzen;
Wenn dein Wort uns nur blicket,
So sind wir gnug erquicket.
Und so lese ich auch im Einverständnis mit Paul Gerhardt ein Wort der Schrift, einen Text aus dem Neuen Testament, der nach meiner Sicht am ehesten ver-deutlichen kann, warum wir in jener Ansicht dem großen Mann aus Lübben nicht folgen sollten ? Lukas 13, 1 ? 5 (Zürcher Übersetzung 2007):
1 Es waren aber zur selben Zeit einige zugegen, die ihm (Jesus von Nazareth) von den Galiläern berichteten, deren Blut Pilatus mit dem ihrer Opfertiere ver-mischt hatte.
2 Und er wandte sich an sie und sagte: Meint ihr, diese Galiläer seien größere Sünder gewesen als alle anderen Galiläer, weil ihnen dies widerfahren ist?
3 Nein, sage ich euch; aber wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle ebenso zu-grunde gehen.
4 Oder jene achtzehn, auf die der Turm am Teich Schiloach stürzte und sie tötete, meint ihr, sie seien schuldiger gewesen als alle anderen Bewohner Jerusalems?
5 Nein, sage ich euch; aber wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle ebenso zu-grunde gehen.
II Wenn ihr nicht umkehrt
Bekanntlich ruft Jesus die Menschen seiner Zeit immer wieder zur Buße, zur Umkehr. Und zwar nicht nur zur Umkehr auf einem Lebensweg, der offensich-tlich in die Irre führt. Sondern es geht um die Aufforderung an alle, ihr Leben zu überprüfen ? ob sie (scheinbar) zurecht kommen damit, oder ob sie (scheinbar) scheitern. Gerade wenn Menschen – oder auch ein ganzes Volk – etwas Schlim-mes erfährt, dachte man damals in Israel, wie Paul Gerhardt dachte, ?, und man denkt es oft auch noch bei uns bis heute:
So ein Unglück muss doch Strafe Gottes sein, eine Quittung für falsches Leben. So jemand muss es büßen. Doch Jesus erklärt es mit einem großen Unglück sei-ner Zeit anders:
Meint ihr, dass jene achtzehn Menschen, auf die der Turm am Teich Schiloach stürzte und sie erschlug, seien schuldiger gewesen sind als alle anderen Bewohner Jerusalems? Nein, sage ich euch; sondern wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle ebenso zugrunde gehen. (Lukas 13, 5)
Wir hören hier eine erste, vorläufige Antwort Jesu auf die schwerste Frage des Glaubens ? die sog. Theodizeefrage: Wie kann es vor Gott gerecht sein, dass Menschen unverschuldet leiden und vor der Zeit sterben müssen? Wie kann Gott zulassen, dass Menschen sich mit ihren (technischen) Möglichkeiten so sehr überheben? Wie kann der Gott, den wir in Christus als die Liebe glauben zugleich jene Allmacht sein, aus der alles, was ist und geschieht, gewirkt wird ? angesichts solcher Katastrophen?
Die Frage impliziert eine kindliche und verständliche Hoffnung, die auch Paul Gerhardt hatte: Der gerechte und allmächtige Gott lässt einen Unschuldigen nicht vor der Zeit sterben. In Paul Gerhardts Worten:
Des Todes Kraft steht in der Sünd
und schnöden Missetaten,
darin ich armes Adamskind
so oft und viel geraten ?.?
Unvermeidlich aber dann auch die Annahme: Irgendetwas besonders Schuld-haftes müssen jene Verunglückten am Teiche Siloah doch getan haben, was ihr Geschick, ihren jähen Tod verursacht hat.
Jesus aber sagt es seinen Zuhörern anders: ?Meint ihr, dass die achtzehn Men-schen, auf die der Turm am Teich Schiloach stürzte und sie erschlug, seien schuldiger gewesen als alle anderen Bewohner Jerusalems?? Mit dieser einen Frage verwirft Jesus das Dogma, besondere Schuld führe zu besonderem Un-glück. Keiner kann jetzt mehr den Willen Gottes für eine Erklärung zu Unguns-ten der Opfer reklamieren. Niemand kann eine Deutung des Unheils entwerfen, wenn er dabei von sich selbst absieht. Und nicht der Mensch soll Gott in Frage stellen. Gott stellt den Fragenden in Frage: ?Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle ebenso zugrunde gehen.? Keine große Drohung ist das, sondern eine große Verunsicherung, die von einer elementaren Warnung ausgeht.
III Frage nach Gott ? Frage nach dem Menschen
Jesus wagt es, die Unterschiede hinsichtlich der Schuldhaftigkeit aufzuheben – bei den Toten und den Lebenden. Am Beispiel des zusammengestürzten Turms, der unterschiedslos achtzehn Menschen erschlagen hatte, demonstriert er:
Die Frage nach Gott wird zu einer Frage nach dem Menschen und seiner Um-kehr: Gerade in dem Rätsel eines so unfasslichen Unglücks, sagt Jesus, sollen die Menschen umkehren zu Gott. Zu welchem Gott? Zu dem Gott, der sich uns in Jesus Christus erschlossen hat. ?Kommt und lasst uns Christum ehren, Herz und Sinne zu ihm kehren ?.?, singt der große Brandenburger. ? ?? zu ihm, nur zu ihm? kehren? Heißt das, Menschen die (wie etwa viele Japaner) einer anderen Religion angehören oder sich als gottlos empfinden, religiös zu überwältigen. Das heißt es nicht. Es heißt ?nur? ? aber was heißt hier ?nur?? -, dass wir in der Frage nach Gott keine andere Antwort für möglich halten als die, die sich am leeren Grab, am Kreuz und an der Krippe in Bethlehem orientiert :
?Also hat Gott die Welt geliebt ??? (S. 64)
Aber worin geschieht nun die Umkehr? In einer unverzüglichen Kehrtwende zu Gott. Der umkehrende Mensch soll neu beginnen, Ihm zu vertrauen und zu ge-horchen. Hier stimmen wir gern mit ein, wenn Paul Gerhardt singt:
Ich freue mich so oft und viel
Ich dieses Sohns gedenke.
Dies ist mein Lied und Saitenspiel,
Wann ich mich heimlich kränke.
Wann meine Schuld und Missetat
Will größer sein als Gottes Gnad,
Und wann mir meinen Glauben
Mein eigen Herz will rauben.
In dieser Hinwendung geschieht die Umkehr in ihrem ersten Schritt auf Gott in Christus zu. Und sie geschieht in einem zweiten Schritt in einer unverzüglichen Hinwendung zum nächsten Mitmenschen. Der umkehrende Mensch beginnt neu, Gott die Ehre zu geben und den ihm möglichen Teil für eine Welt zu tun, in der der Mitmensch besser geachtet und geschützt wird und in der Gerechtig-keit und Macht zu einem besseren Ausgleich kommen als in den gegenwärtigen Umständen.
IV Entlastung
Was bedeutet das für die schwerste Frage des Glaubens? Ist die Frage nach dem Grund der Leiden und Katastophen ? wie Paul Gerhardt es sieht ? nicht doch in der Straferziehung Gottes an seinen ungestümen Kindern zu sehen! Ich meine: Nein! Schauen wir auf das Wort Jesu über die Katastrophe am Teich Schiloach, so dürfen wir zunächst sagen: Wir sind entlastet. Wir müssen und dürfen eine letztgültige Antwort auf die die Frage nach der Macht und der Ge-rechtigkeit Gottes nicht geben. das quälende Problem, warum der allmächtige Gott so viel Unrecht und Unglück auf seiner Erde geschehen lässt, können und sollen wir zu Lebzeiten und mit unseren Verstehensmöglichkeiten nicht wider-spruchslos lösen. – Man sagt in der theologischen Wissenschaft gern, diese Fra-ge ließe sich überhaupt nicht lösen. Das ist zu wenig. Denn wir haben die Er-kenntnis des in Christus mit uns leidenden Gottes, die Paul Gerhardt uns in sei-nen Christusversen so oft ins Lied gebracht hat. Und wir haben vor allem das Zeugnis des Auferstandenen, der das Leid und den Tod überwunden hat. Aber auch dieses unverzichtbare Zeugnis gibt keine Antwort, die auf Erden jene Fra-ge in jeder Hinsicht stimmig beantwortet.
Das ernste Rätsel lässt sich hier und jetzt in einer Mai-Predigt in Lübben nicht dogmatisch ? nicht theo-logisch – auflösen. Wir sollten das auch gar nicht erst versuchen. Wir schaffen es nicht. Wir können es nicht. Aber im Blick auf den zum Kreuz und zur Auferstehung gehenden Jesus brauche ich es auch nicht aufzulösen. Ich brauche Ihnen und mir Gottes Treue und Gottes Trotzdem nicht widerspruchsfrei zu erschließen und erklären. Und ich brauche sie auch nicht angestrengt zu beteuern (oder zu bestreiten). Und ich muss sie nicht in eine intelligente Übereinstimmung bringen mit erfahrenem Unglück. Wir alle kön-nen jenes Rätsel, dass in Japan so viel Unschuldige den Konsequenzen von so viel ohnmächtiger und fehlgeleiteter menschlicher Verantwortung zum Opfer fallen, nur ein Stück weit enträtseln. Aber mehr (als ein Stück) ist von uns als Theologinnen und Theologen nicht verlangt. Und das eben ist eine Einsicht, die entlastet. In Paul Gerhardts Worten:
So fahre hin du tolle Schar!
Ich bleibe bei dem Sohne.
Dem geb ich mich, des bin ich gar,
Und er ist meine Krone.
Hab ich den Sohn, so hab ich gnug,
Sein Kreuz und Leiden ist mein Schmuck,
Sein Angst ist meine Freude,
Sein Sterben meine Weide.
V Es muss an Ihm vorbei
Vor vielen Unglücken auf dieser Welt, die Menschen mitverursacht haben, muss man dann nicht mehr die Augen verschließen. Die Angst ist eingedämmt, dass wir uns davor schützen könnten, indem wir darüber hinwegsehen. Der atomare GAU, der Tsunami, die Hungersnöte, Kriege, Klimakatastrophen, so viele aus der Natur hervorbrechenden und von Menschen verursachten Unglü-cke und Ungerechtigkeiten ? dagegen aber sind wir nun frei, sie ungeschminkt wahrzunehmen, zu bedenken und tatkräftig zu handeln. – Wir müssen Gott nicht entlasten oder gar in seiner Güte beweisen. Wir können uns gewiss darauf verlassen, dass wir es nicht mit einem sich von uns abwendenden uns brutal bestrafenden Gott zu tun haben, auch wenn er uns verborgen scheint. Und auf alle Fälle lässt sich sagen: Gott, der sich uns in Jesus gezeigt und offenbart hat, ER ist nicht der Urheber eines den Menschen zerstörenden Unglücks. Aber jedes Unglück muss an ihm vorbei. Es geschieht nicht in der Abwesenheit Got-tes. Und Gottes Treue trägt uns über Unglück und Tod und Unrecht hinaus und gibt dem Leben trotzdem Sinn und Zukunft: Hier bin ich wieder im Einklang mit Paul Gerhardt und singe mit ihm und euch (breites gelbes Fähnchen):
Weg hast du aller Wegen
An Mitteln fehlts dir nicht,
Dein Tun ist lauter Segen,
Dein Gang ist lauter Licht,
dein Werk kann niemand hindern,
Dein Arbeit darf nicht ruhn,
Wenn du, was deinen Kindern
Ersprießlich ist, willst tun.
In der Kraft dieser Zusage erwartet die christliche Gemeinde die Auferstehung von den Toten, den neuen Himmel und die neue Erde Gottes – und mit ihnen die Antwort auf die ungelösten Fragen. Diese Fragen aber sollen wir bis dahin wach halten, – wohl wissend, dass wir Gott in seiner Barmherzigkeit oder seiner Verborgenheit nicht festlegen können. Wir sind zur Umkehr gerufen und zur Wahrnehmung unserer Mitverantwortung ? und zur Solidarität mit denen, die so sehr versehrt wurden.
Und gerufen sind wir miteinander zu einer Zuversicht, wie sie uns der Dichter unserer evangelischen Kirche vorgesungen hat:
Der aber, der uns ewig liebt,
Macht gut, was wir verwirren,
Erfreut, wo wir uns selbst betrübt,
Und führt uns, wo wir irren;
Und dazu treibt ihn sein Gemüt
Und die so reine Vatergüt,
In der uns arme Sünder
Er trägt als seine Kinder.
Prof. Dr. Rolf Wischnath
Brunnenstraße 9
33332 Gütersloh